Welches Buzzwort passt zu mir? Shopsysteme und die Vision ihrer Hersteller.

Quelle: pexels
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Es ist Zeit die Taschentücher rauszuholen, denn die Nachricht ist sehr traurig. Die Nachricht lautet: „Die Commerce-Branche hat es schwer!“ Damit sind wirklich alle gemeint. Händler und Hersteller, die ihr Geschäft von Marketing über Vertrieb bis zu den Services intern und extern digitalisieren müssen, haben es schwer. Stationäre Händler haben es schwer. Marktplatzhändler haben es schwer. Softwarehersteller von Shopsystemen haben es schwer. Das Marketing der Shopsystemherstellern hat es schwer. ALLE HABEN ES SCHWER!
 
Ich gebe zu, der letzte Absatz ist eine zynische Polemik. Ganz so laut klagt keine der erwähnten Gruppen. Dennoch hat mich ein Interview der FashionUnited mit CEO und Mitgründer der commercetools GmbH, Dirk Hörig, letzte Woche nachdenklich gestimmt. Denn, wie jedes Jahr, wenn sich die dmexco nähert, das Jahr sich seinem Ende neigt und allenthalben nach neuen Trends gesucht wird, scheint es, als walze man in den Marketing- und PR-Abteilungen den letzten Krümel Kreativität aus den Mitarbeitern. Positionierung und Abgrenzung vom Wettbewerb um jeden Preis! Neue Buzzworte inklusive.
 
Nun möchte ich mich gar nicht künstlich selbst erhöhen. Ich bin schließlich Teil der Marketing-Industrie, die im Fahrwasser der digitalen Transformation Herausforderungen zu Forderungen formuliert. Beschreiben Händler und Hersteller beispielsweise, wie schwer es ihnen fällt stationär UND online erfolgreich zu sein, ruft mit Sicherheit jemand „multi-channel“ oder „omnichannel“, gefolgt von einer bunten Utopie des aufwandslosen digitalen Geschäftserfolgs über alle Kanäle. Halleluja, wieder eine Frage vorbildlich durch Buzzworte „beantwortet“!
 
Doch woran liegt das und welche Vision verbirgt sich hinter den Marketing-Nachrichten der Lösungshersteller? Zeit, genauer hinzusehen.

Ich sehe nur, was sexy ist

Das Buzzwort-Phänomen der Commerce-Branche ist recht schnell erklärt. Umsatz und Profit bedeuten Geld – und Geld ist sexy. Die Betrachtung der alltäglichen Herausforderungen der Händler und Hersteller ist schon weniger sexy. Höchstens noch für jene, die mit ähnlichen Herausforderungen zu tun haben, die Branchen-Insider und die operativen Nerds. Am wenigsten sexy ist Technologie, außer für eine sehr überschaubare Fangemeinde.

Die Lücke zwischen vermeintlich unsexy Technologie und sexy Businessmehrwert (Geld) müssen demnach alle Lösungshersteller, bzw. ihre Marketingabteilungen, schließen. Das ist aus zwei Gründen insbesondere für Shopsystemhersteller herausfordernd.

Zum einen erfordert die angebotene Business-Vision häufig mehr Komponenten, als die reine Shoplösung. Zum anderen verändert sich der Markt langsamer und heterogener, als vor Jahren erwartet. Gerade der letzte Grund erzeugt immer neue Buzzworte, die im Kern doch dieselbe alte Vision stützen. Nämlich, technisch gesprochen, die erweiterbare zentrale Steuerung der Marketing-, Vetriebs- und Serviceaktivitäten über alle Kanäle.

Ja, das klingt nicht sexy.

Everywhere Commerce reloaded

Wie weiter oben geschrieben war das Interview mit Dirk Hörig der Stein des Anstoßes zu diesem Artikel. Betitelt „Everywhere Commerce ist die nächste Stufe im Onlinehandel“ musste ich mich doch schwer wundern und fühlte mich durch das Buzzwort „Everywhere Commerce“ direkt nostalgisch. Schließlich hieß das Premieren-Handelskraft-Trendbuch 2013 „Trends, Strategien und Potenziale im Everywhere Commerce“. 2014 hieß es „Die neue Realität im Everywhere Commerce“.

Ebenfalls in der vergangenen Woche kam mir außerdem sehr betagtes Marketingmaterial des Shoplösungsanbieters Intershop in meinen Facebook-Stream. Damals entwickelte man beim E-Commerce-Pionier den Begriff „x-Commerce“. Soweit sich nachvollziehen lässt, um die Leistungsfähigkeit des Produktes einzuordnen und nicht unnötig auf B2C, B2B oder B2B2C zu beschränken. Jahre später ist das Commerce-Management-Kernprodukt der Intershop Commerce Suite übrigens als Edition B2C sowie als Edition B2X erhältlich.

Beide Beispiele zeigen, dass die Commerce-Branche in ihrer Entwicklung extrem heterogen ist, denn inhaltlich ist weder am Interview mit commercetools, noch in der Positionierung von Intershop etwas auszusetzen. Es wird deutlich, dass „multi-channel“, „cross-channel“, „omnichannel“, „multi-touchpoint” oder “touchpoint-sensitiv” eben längst noch kein Standard für viele Unternehmen sind. Standard ist es jedoch für alle Shopsystemlösungen, deren Entwicklung in erster Linie von Innovation und innovativen Kundenanforderungen getrieben wird.

Channel-Innovation-Overkill

Zeitsprung: Zunächst wurde Printkatalog und Ladengeschäft durch Webshop und E-Mail erweitert bzw. ersetzt. In weiteren 15 Jahren revolutionierten Blogs, YouTube, Twitter, Smartphones, Facebook, Tablets, Wearables, Instagram, Snapchat und Co die Kanal-Denke der Händler und Hersteller. Mittlerweile hinzugekommen sind Virtual und Augmented Reality Brillen, smarte Lautsprecher und Hearables. Natürlich hat jeder Kanal vermeintlich Commerce-Potenzial.

Die Herausforderung besteht jedoch nicht in der schieren Kanalanzahl, sondern in den individuellen Logiken der Kanäle. Ein mobil konsumierter Blog mag schlechter konvertieren, als der Desktop-Webshop, jedoch leistet der Content über die gesamte customer-journey womöglich einen Beitrag zu Kundenaquise oder -bindung.

Genau hier schlägt die erste Herausforderung zu: Die Business-Vision, egal welches Buzzwort man verwenden will, bedarf mehr Komponenten als der Shoplösung. Den Shop zentral zu verwalten und Produktseiten responsiv über alle Kanäle auszuspielen genügt den meisten längst nicht mehr. Die Herausforderungen der Business-Nutzer erfordert individuell angepasste, digitale Handelsplattformen und die Integration in die bestehende – oft einzigartige – Systemlandschaft.

Talk Nerdy to Me

Es hilft nichts: die Stärken und Schwächen der Shopsystemanbieter lassen sich nur unbefriedigend mithilfe ihrer Marketing- und PR-Positionierung bewerten. Dennoch ist es nicht überflüssig, denn anhand der Vision lässt sich zumindest einschätzen, inwieweit die Softwarehersteller ihre Zielgruppe verstanden haben.

Ob Werbung und Realität zusammenpassen muss jedoch ein Blick auf die Technologie klären, bzw. anders gefragt: Ist die Technologie in der Lage die Zukunftsversprechen des Herstellers zu erfüllen? Wie reif sind benötigte Funktionen beispielsweise in Sachen Massendatenmanagement, Kundendatenmanagement, Marketing- und Kampagnenmanagement oder Ordermanagement?

Quickcheck commercetools

commercetools wirbt neben “Everywhere Commerce” vor allem mit “Commerce at the Speed of Wow!” und “API-Commerce / API-Economy”. Alle Marketingmaßnahmen zielen darauf die Projektgeschwindigkeit durch die commercetools Microservice-Architektur in den Vordergrund zu rücken.

Tatsächlich ist commercetools prädestiniert für MVP-Projekte, da schnell Ergebnisse vorliegen. Doch auch große Installationen meistert die Plattform. Bemerkenswert ist, dass commercetools kein vollwertiges Frontend bietet. Generell setzt der Anbieter auf stärker auf Systemintegration und –verknüpfung, denn auf Eigenentwicklung. Das erklärt auch den Augmented-Reality Use-Case, denn es badarf in erster Linie der Frontend-Entwicklung. Das Backend liefert zuverlässig die Inhalte. commercetools dient als mächtiges Daten-Hub.

Sympathisch ist, dass commercetools auch regelmäßig erwähnt, dass das System nicht für jeden geeignet ist. Begründet wird das vor allem mit dem nötigen Know-how Aufbau. Zusammengefasst: Wer einen Standardshop benötigt, sollte diesen auch nutzen. Wer innerhalb der Digitalstrategie viele Experimente wagen muss oder will, der könnte mit commercetools die richtige Lösung haben. Auf der dmexco heißt das „Die Commerce Plattform für die Post-Webshop Ära“

Quickcheck Spryker

Spryker hat seit zwei bis drei Jahren das lauteste Marketing, was vor Allem Mitgründer und Kassenzone-Herausgeber Alexander Graf zu verdanken ist. Hut ab, der Mann hat Marketing begriffen. Aktuell wirbt Spryker mit „Build. Own. Win.“

Bei Spryker von einem Shopsystem zu sprechen wäre nicht ganz treffend. Spryker ist ein Framework, bzw. laut eigenem Marketing ein „Commerce-OS“, also ein Handelsbetriebssystem. Auch Spryker besitzt kein eigenes Frontend. Im Kern bietet Spryker ein Toolset für Shopeigenentwicklungen – und eben mehr. Spryker selbst ist keine Standardlösung und produziert auch keine. Build sowie Own sind demnach erfüllt.

Passende Kunden sind allerdings eher Individualisten und große Player, die weiterhin oder jetzt erst Recht auf eine Eigenentwicklung setzen wollen. Man darf gespannt sein, welche Kunden in Zukunft Spryker-Good-News teilen.

Quickcheck Intershop

Intershop ist E-Commerce-Pionier und –Sorgenkind zugleich. Keinem Anbieter haftet der kalte Hauch des Todes so zuverlässig an. Umso erfreulicher, dass Intershop langsam in sicherere Fahrwasser zurückkehrt. Grund dafür ist auch die neue Marketingstrategie. Der „digital Transformer“ fokussiert auf den Großhandel. Außerdem modernisiert man die Plattform durch Microservices und hat kürzlich das Shopsystem auch für die Microsoft-Cloud verfügbar gemacht. Man fokussiert weniger auf die eigenen, vielfältigen Commerce-Funktionen, sondern besetzt stärker das Thema Integration.

Intershops Stärke liegt in komplexen Commerce-Szenarien. Kaum ein Begriff, der vom Hersteller nicht schon einmal das Präfix „multi“ verliehen bekam. Daher trifft den Hersteller die heterogene Marktentwicklung auch am stärksten. Schnell denken potentielle Kunden, dass die Lösung zu groß und komplex für sie wäre. Das ist Schade, denn Intershop-Order-Management und Omni-Channel-Services-Toolset nutzen auch weniger millionenschweren Unternehmen. Intershops dmexco slogan: „Strive For Your Digital Transformation“.

Quickcheck Salesforce

Aktuell ist Salesforce laut Forbes das innovativste Unternehmen der Welt. In puncto Marketing setzt man voll auf die künstliche Intelligenz Einstein und eine Comic-Abenteuerwelt-Bildsprache. Marketing, speziell für die Salesforce Commerce Cloud gibt es kaum. Wenig verwunderlich, denn Salesforce ist nicht erst seit dem Demandware-Kauf ein Produktuniversum.

Salesforce steht nicht vor der Herausforderung eine Business-Vision zu verkaufen, die über ihre Produktwelt hinausgeht. Salesforce besitzt die Produktwelt und kann mit entsprechend stolzer Brust in den Markt ziehen. Technische Details der Cloud-Lösung bekommen keine Aufmerksamkeit. Wer Einblick ins Salesforce-Universum möchte, braucht daher verlässliche Partner. Der Slogan für die dmexco ist übrigens: „Alle Customer Journeys beginnen in Köln.“

Quickcheck SAP Hybris

Seit 2013 ist Hybris als Zukauf von SAP Teil der SAP-Produktwelt. Das starke Commerce-Marketing ist mittlerweile beliebig geworden. Das ist schade, denn auch, wenn SAP Hybris Rückenwind durch die SAP-Dachmarke und den Fokus auf die künstliche Intelligenz Leonardo auf Basis der SAP HANA in-memory-Technologie bekommt, ließe sich doch noch mehr erzählen.

Gerade das Microservice-Ökosystem YaaS bietet beispielsweise mit „Profiles“ eine Menge Gesprächs- und Werbepotential. Auf der dmexco heißt es für SAP Hybris: „Signal in the Noise“ und setzt voll auf Big-Data bzw. Smart-Data-Commerce.

Bitte, wie komme ich aus dem Buzzwort-Dschungel?

Eingangs behauptete ich polemisch, die Commerce-Branche habe es schwer. Bei näherer Betrachtung ist an dieser Behauptung doch etwas Wahres dran. Die Lösungen der Systemhersteller sind darauf ausgelegt komplexe und innovative Anforderungen zu befriedigen. Doch nicht jeder Händler oder Hersteller ist schon soweit. Auch, wenn Kunden nicht in Kanäle unterscheiden, so tun es die Unternehmen – und werden das auch weiterhin.

Für viele beginnt gerade erst die digitale Transformation, auch, wenn man das 2017 kaum glauben mag. Ob die Übersetzungsleistung der ambitionierten Experten-Lösungen in die Worte und Botschaften der Beginner und Advanced Player durch das Corporate-Marketing der Hersteller überhaupt geleistet werden kann, ist fraglich. Von der Schere zwischen sexy Business und unsexy Technologie ganz zu schweigen.

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