Amoklauf auf Twitter

Twitter hat mit dem schrecklichen Vorfall in Winnenden einen medialen Gau ausgelöst und sich damit mit einem Quantensprung in einen Diskurs über Pietät und Medienwirkung hineinkatapultiert.

Was in Winnenden passiert ist, lässt sich kaum in Worte fassen und vermutlich ist es genau dieser Umstand, der vielen Menschen und Journalisten nun so bitter aufstößt. Twitter bedeutet schnelle Worte zu finden. Einer spricht vom Hudson River-Effekt und prangert die Einläutung der medialen Abstumpfung ein, teilweise nicht ungerechtfertigt.

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Die klassischen Medien haben es versäumt richtig zu reagieren. Das ist so, weil Twitter live ist. Aus dem Bedürfnis heraus schnell und live auf Ereignisse zu reagieren, sind diesen Medien nun gewaltige Fehler unterlaufen, siehe hier und hier.

In diesem Theaterstück, das nun zunehmend grotesk wird, steht jedoch eine Frage im Raum, die schwer zu beantworten bleibt: Welchen Einfluss hat Twitter auf unser Werteverständnis?

Twitter hat sich neben seiner Funktion als offenes Short-Message-Instrument seinen Weg aus dem Web-2.0 gebahnt und ersetzt nun den Paparazzi. Diesen Umstand gilt es in der Tat zu kritisieren. Aber dennoch ist es wichtig richtig zu kritisieren. Stefan Niggemeier hat mich mit seiner Einschätzung und seiner Meinung dazu in Großem Maße enttäuscht. Ein gestandener Medienjournalist ist nicht wirklich in der Lage seine Einschätzungen so zu formulieren, dass sie nicht wie ein Moral-Plädoyer herüberkommen. Dass er Gefahren sieht, ist ja das Mindeste, was man erwarten kann.

Aber woher kommt der Trugschluss, dass es bereits Institutionen geben soll, die Twitter angemessen einsetzen? Selbst Professionelle haben dieses Instrument gerade erst entdeckt und in welcher Form jetzt abzuschätzen, wie man sich vor einer virtuellen Masse zu präsentieren hat, insbesondere die Art und Weise seine Arbeit zu dokumentieren, kann doch keiner zu so einen Zeitpunkt sagen.

Twitter – eine unprofessionelle BlaBla-Presseagentur? Weil sich ein paar wichtige Formate und Sender auf diesem Kanal bewegt haben…

Wenn man schon von Pietätlosigkeit im Falle des Amoklaufs von Winnenden zu sprechen wünscht, dann sollte man wohl nicht vergessen, dass Twitter Twitter bleibt und dass ein Diskurs über die Einsetzung dessen überflüssig bleibt.

Davon hat keiner was. Weder die Toten, noch die Medienjournalisten.

Eins sei noch gesagt: Medienjournalisten sollten sich sehr genau darüber im Klaren werden, wie man über dieses Microblogging-Dienst zu denken hat, mehr noch: wie man mit ihm umzugehen hat. Denn – und das wird jeder Journalist und Gaffer im Netz prompt unterschreiben – in der virtuellen Welt, die sich der Echtzeit annimmt, ist Aufmerksamkeit die einzige Währung von Bedeutung.

Dieser Fall und dieses Instrument ist eine journalistische Sollbruchstelle.

(3 Bewertung(en), Schnitt: 5,00 von 5)
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2 Reaktionen zu “Amoklauf auf Twitter”

  1. nachgeblogt.de

    Dort ist ein ganz frisches Interview mit dem Betreiber der Seite krautchan.net “Tsaryu”

  2. Gerade sehe ich die interessante Dokumentation auf VOX „Amok – Anatomie des Unfassbaren“. Zur Sprache kommt auch, dass heute für Jugendliche das Internet eine Kommunikationsplattform ist. Angeblich teilen Jungedliche häufig ihre Absicht zum Amoklauf vorher mit.

    Meines Erachtens unterscheiden sich im schrecklichen Ergbnis Amokläufer nicht von Selbstmord-Attentätern.

    Nachdem die Geheimdienste mittels Web-Crawler und Web-Spider das Internet und auch Mails ununterbrochen mitlesen und auf Hinweise zu geplanten Aktionen von Attentätern durchsuchen, frage ich mich, warum diese Dienste nicht schon im Vorfeld entsprechende Warnhinweise an die vor Ort zuständige Polizei weitergeben.

    Wir Steuerzahler bezahlen doch schliesslich diese Dienste. Wird da etwa bei Ankündigungen jugendlicher Amokläufer geschlafen?