E-Governance – von Online-Bürgern und digitaler Bürokratie oder: Wo hängt es denn, Deutschland?

E-Governance Online Bürger
Quelle: Carl Heyerdahl | Unsplash

Estland ist kleiner Staat im Baltikum. Rund 45.000 Quadratkilometer, mit 1,32 Millionen Einwohnern gut 100.000 weniger als München. Rund 12.000 Elche, 800 Luchse, 600 Braunbären. Und Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin ist eine der prominentesten E-Bürgerinnen des kleinen Landes. Denn Estland, oder sollte man besser schreiben E-Stland, ist einer der Vorreiter weltweit, geht es um E-Governance, um die Digitalisierung auf Verwaltungsebene. Und dazu gehört es in Estland, auch Menschen anderer Nationalitäten die digitale Staatsbürgerschaft zugänglich zu machen.

Was das ist und wie es um die Digitalisierung der staatlichen Verwaltung an anderen Orten auf dem Globus und in Deutschland steht, das schauen wir uns heute mal genauer an.

E-Governance und E-Health: Nordeuropa als Vorreiter

Einst Teil der Sowjetunion, gehört Estland seit der EU-Osterweiterung 2004 zur Europäischen Union. Es ist eines der am wenigsten verschuldeten Länder der Staatengemeinschaft und bereits seit Jahren bietet es seinen Staatsbürgern an, mit einer einzigen ID sämtliche Verwaltungsvorgänge online abzuwickeln.

So etwa kennen Esten keine stundenlangen Wartezeiten im Bürgerbüro, um einen neuen Personalausweis zu beantragen oder ein Autokennzeichen abzuholen. Auch reichen sie selbstverständlich und bereits seit Jahren ihre Steuererklärung online ein. Aspekte der Gesundheitsversorgung managen sie über E-Health-Systeme, mit digitalen Rezepten und einer digitalen Patientenakte, in der Patientendaten wie Diagnosen, Röntgenaufnahmen und Behandlungsergebnisse in einer Cloud gespeichert und leicht abrufbar sind.

Wie das alles im Detail funktioniert, ist komplex, aber Estland zeigt, dass es datenschutzrechtlich konform gelingen kann: Über die virtuelle Schnittstelle X-Road, dem Herzstück der digitalen öffentlichen Verwaltung, sind Server zahlreicher Behörden, Energie- und Telekommunikationsunternehmen sowie Banken und das Gesundheitswesen miteinander verbunden. Das E-Governance-Konzept ist stets barrierearm und bürgerzentriert gedacht.

E-Governance: Eine Studie der EU zeigt Nordeuropa vorn

In Estland gibt es zudem ohne Diskussionen flächendeckendes WLAN im öffentlichen Raum. Auch ist es für Kinder selbstverständlich, bereits im Grundschulalter programmieren zu lernen.

Dem DESI zufolge, dem Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft in Europa, gibt es in der EU dabei sogar noch digitalere Staaten als Estland – Finnland, Schweden oder Irland etwa. Der Index vergleicht verschiedene Faktoren, der Punkt »Digitale öffentliche Dienste« kommt erst nach »Konnektivität«, »Humankapital«, »Internetnutzung« und der »Integration der Digitaltechnik« an Position fünf.

Was Estland indes besonders macht, das ist die Möglichkeit, E-Residency im kleinen Land zu beantragen und somit Online-Bürger zu werden. Diese spezielle Form der Staatsbürgerschaft schließt zwar ein Wohn- und Bleiberecht und ein Wahlrecht aus, es beinhaltet aber das Recht, in Estland unkompliziert auf digitalen Wegen eine Firma zu gründen – was bislang rund 4000 Gründungen zur Folge hatte.

E-Governance in Taiwan: Die Digitalziele der Audrey Tang

Audrey Tang ist erst 39 Jahre alt und blickt doch auf ein aufregendes Leben zurück: Die parteilose Digitalministerin des asiatischen Inselstaates lebte bis zu ihrem 24. Lebensjahr als Mann, sie gilt als hochbegabte Informatikerin und profilierte Hackerin, als Aktivistin der von ihr mitgegründete freien Bürgerbeteiligungsplattform g0v.tw fand sie in die Politik.

Heute definiert sie sich als postgender und, viel wichtiger als Fragen zur Geschlechtszugehörigkeit: Audrey Tang steht wie kaum jemand zweites für ein aufgeschlossenes, progressives Asien, in dem demokratische Werte auf digitalen Wegen ausgedrückt werden können und Menschen viele Rechte haben – unter anderem das Recht auf Breitbandinternet, in dem sie sich frei bewegen können–, statt mithilfe digitaler Technologien unterdrückt und erzogen zu werden.

In vielen Hinsichten jedenfalls ist Taiwan extrem fortschrittlich: So etwa veranstaltet in Taiwan die Präsidentin Tsai Ing-Wen jährlich einen Hackathon, der neue Ideen von höchster Stelle auszeichnet und die Umsetzung fördert. Darüber hinaus werden auf digitalen Plattformen Teilhabe und Transparenz im Digitalzeitalter erlebbar, indem zum Beispiel Themen und Pläne des Digitalministeriums öffentlich kommuniziert werden und jeder Bürger unbürokratisch Verbesserungsvorschläge einreichen kann.

Wichtig ist in Taiwan auch, dass das Open-data-Prinzip auf Staatsseite praktiziert wird: Das bedeutet, dass alle Daten, die den Staat betreffen, der Öffentlichkeit weitgehend zugänglich gemacht werden. Es wird nutzer-, das heißt bürgerzentriert gedacht – und die Insel unterscheidet sich damit fundamental von China.

E-Governance in Deutschland: Das Formular als PDF zum Selbstausdruck

Tallin, Taiwan, Tangermünde: Ein nettes Kleinstädtchen an der Elbe, in Sachsen-Anhalt. Die Website des Ortes ist so, wie die Webseiten der meisten deutschen Kommunen sind: Latent veraltet, leidlich mobiloptimiert. Eben Eingangstor für digitales Mittelmaß. Und unter dem Reiter Bürgerservice findet man eine alphabetische Telefonnummernliste von »Allg. Gefahrenabwehr« bis »Wasserwerk«.

Es gibt ferner die Möglichkeit, sich Formulare als PDF herunterzuladen und auszudrucken; Formulare, die ebenfalls amtsalphabetisch sortiert und nicht schlüssig verschlagwortet sind. Findet man in dieser langen Liste tatsächlich das richtige und verfügt dann noch über einen Drucker, könnte das ausgedruckte, vorausgefüllte Exemplar die Wartezeit womöglich etwas reduzieren – vor Ort beim Amt, versteht sich.

Willkommen in der deutschen Wirklichkeit. Denn ja, in Deutschland möchte man auch verwaltungsseitig digitaler und bürokratiemäßig schlanker werden, seit Jahren. Das bereits dritte Bürokratieentlastungsgesetz zeugt davon. Für diese Legislatur sind zum Beispiel folgende Ziele gesteckt:

Aktenberge sollen reduziert und mehr digitale Verfahren ermöglicht werden – denn noch war Richtern zum Beispiel Homeoffice auch während des Lockdowns untersagt, da sie Akten physisch und vor Ort im Amtszimmer durcharbeiten müssen, um sich vorzubereiten.

Die Regierung plant ferner, Wirtschaftsunternehmen bei Statistikpflichten zu entlasten und das Registerwesen durch Einführung eines Basisregisters für Unternehmen zu modernisieren.

Bereits möglich ist, sich digital krankschreiben zu lassen. Das spart Arbeitnehmern Laufwege. Aber E-Health? Ist das nicht.

E-Governance löst in Deutschland Widerstände aus

Auf der einen Seite aber wirkt Deutschland gerade, was die Digitalisierung bürokratischer Vorgänge angeht, weit hinterher. Zugleich wird hin und wieder über das Ziel hinausgeschossen, was berechtigte Kritik von Netzaktivisten und Datenschützern provoziert: So etwa kritisieren viele den jüngsten Ansatz der Bundesregierung, Bürgern eine zentrale ID zu verpassen. Es soll die Steuer-ID sein, jedes Neugeborene bekommt sie kurz nach der Geburt zugeschickt, sie ändert sich ein Leben lang nicht.

Mit der zentralen ID sollen Verwechslungen ausgeschlossen werden. Denn nicht alle Namen sind einzigartig, Peter Müller und Maria Schmidt gibt es Hunderte. Nummern sind da eindeutiger. Mit der zentralen ID, über die im Rahmen eines anderen Gesetzes, dem Onlinezugangsgesetz (OZG), debattiert wird, soll vor allem den Behörden das E-Government erleichtert werden: Über die Nummer könne sie statische Daten wie Name, Geburtstag oder Geburtsort sowie weitere wichtige Basisdaten wie Geschlecht, Anschrift und Staatsangehörigkeiten behördenübergreifend abrufen.

Allerdings ist bisher weder klar, ob es möglich ist, für besonders schützenswerte Personen eine Abrufsperre einzurichten und wer diese Personen dann sind. Oder ob der Wunsch einiger, eher nicht als konservativ geltender Fraktionen Umsetzung findet, diese Daten unter der zentralen Nummer zumindest für Sicherheitsbehörden nicht abrufbar zu machen.

Die zentrale ID soll allerdings für das Melderegister, die Führerschein- und Waffenbesitz-Datenbank gelten, es soll behördenübergreifenden Zugang für das Schuldner- und Anwaltsverzeichnis geben und es solle einsehbar sein, wer wann Bafög bekommen habe oder Sozialleistungen wie Wohngeld bezog. Auch das Ausländerzentralregister soll so behördenunabhängig mit der ID konsultierbar sein.

Gegen den Entwurf, der Ende August auf netzpolitik.org durchsickerte, regt sich seither multipler Widerstand. Teils kommt er vom Staat selbst. Für den Bundesdatenschutzbeauftragten verstößt der Plan massiv gegen geltendes Recht.

Digitalisierung ist zu einem wichtigen Faktor der politischen Kultur geworden. Während die in der DESI Studie führenden nordeuropäischen Staaten eher bürgerfreundlich digitalisieren und die digitale Demokratie fördern, Barrierefreiheit, Teilhabe und Eigengründungen stärken, versteht die Bundesregierung E-Governance offenbar so: Es geht darum, noch behördenfreundlicher zu werden.

Umso schöner, wenn es auch Ausnahmen gibt, die tatsächlich auch uns Behördengänge leichter machen. Doch selbst Online-Terminvereinbarungen sind in Deutschland noch nicht überall Standard. Und auf dem Amt erscheinen, muss man ja dennoch.

E-Governance muss mehr als Trend sein

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